Mensch und Zeit in Dunkelheit

Apr 23, 2024

Mensch und Zeit

Ein Mensch west, vorerst nur ein Traum, Im All, noch ohne Zeit und Raum. Doch sieh, schon drängt’s ihn in die Furt Des Stroms ans Ufer der Geburt, Und eh er noch ein Erdengast, Hat ihn die Zeit bereits erfaßt. Der erste Blick, der erste Schrei – Schon ist ein Quentchen Zeit vorbei, Und was von nun an kommt, das ist Nur Ablauf mehr der Lebensfrist, Von deren Dauer er nichts weiß: Ob er als Kind stirbt, ob als Greis, Geboren ist er jedenfalls, Entrückt der Ewigkeit des Alls. Geburtsjahr, Tag und Stunde wird Vom Standesamte registriert; Der Mensch, merkt er’s auch erst nur wenig, Er ist der Zeit jetzt untertänig. Noch haben – später geht’s geschwinder – Ja noch viel Zeit die kleinen Kinder. Wie ist ein solcher Tag noch lang, Von Sonnenauf- bis Untergang! Denn Zeit beginnt ja erst zu eilen, Zwingt uns die Pflicht, sie einzuteilen. Dem Kind, das glücklich doch im Grunde, Schlägt, nach dem Sprichwort, keine Stunde Als die, wo’s heißt: »Für heut ist Schluß!« Und wo es schlafen gehen muß. 11 Doch schau, schon steht dem Zeitverschwender Der erste Schultag im Kalender! Der sanfte Fluß wird jäh zerbrochen Zu Stunden, Tagen und zu Wochen, Es geht der Ernst des Lebens an, Die Kette klirrt: der Stundenplan! Das Kind, noch arglos von Natur, Lernt bald zu rechnen nach der Uhr Und freut sich an dem Tick-Tack-Tick. Und doch ist das der Augenblick, Wo es verfällt der schnöden Welt Und ihrer Lüge, Zeit sei Geld. Die Frist der Unschuld ist verträumt, Schon gilt es: »Keine Pflicht versäumt!« Zeit – heißt’s im Faust – geht schnell von hinnen, Doch Ordnung lehrt Euch Zeit gewinnen. Die Zeit, der Reichtum junger Jahre, Wird ausgesprochne Mangelware – Es müßt denn sein, daß einer bliebe Bei jener Zunft der Tagediebe, Die unserm Herrgott einfach stehlen Die Stunden, die dann doppelt fehlen Dem Bürger, der drum wenig Sinn Besitzt für solchen Zeitgewinn. Die Fleißigen (das sind die meisten!), Die können derlei sich nicht leisten, Weil mit der Zeit, der sie ergeben, Sie um die Wette vorwärts streben. Die freilich läuft auf flinken Sohlen, Und sie ist nie mehr einzuholen. An unzerreißbar feinen Fädchen Zieht sie die Knaben und die Mädchen 12 Von Ziel zu Ziel – die Schul’ ist aus! – Ins Leben, endlich, geht’s hinaus, Das trügerisch so viel verspricht: Erst sagt es: »Nur Geduld – noch nicht!« Und plötzlich höhnt es uns: »Nicht mehr!« Das Alter kommt ganz leis daher Und, ewig hoffend, bald würd’s schöner, War’n wir nur arme Tagelöhner, Geknechtet ständig von Terminen Und von der Pflicht zum Geldverdienen. Was waren unsre kleinen Freuden? Nichts als ein wenig Zeit – vergeuden. Tut uns die Uhr den letzten Schlag, Sind wieder tausend Jahr ein Tag, Und aus der Zeit sind wir entlassen – Wohin? Kein Sterblicher wird’s fassen. Man wird es in der Zeitung lesen, Im besten Fall, daß wir – gewesen. Die Menschen, ungerührt, ja heiter, Sie leben, ohne uns, dann weiter. Sie lieben, hassen, hoffen, raufen, Bis ihre Zeit auch abgelaufen. So gehn wir, wärn wir noch so munter, Im Strom der Zeiten alle unter. Wie traurig wäre dies Ergebnis, Gäb’s nicht die Zeit als Glückserlebnis Und gält’s nicht, sich zu rühren wacker: Die Zeit, sie ist auch unser Acker, Darein noch der geringste Mann Sein Körnlein Gutes streuen kann. So, wie wir selbst von den entfernten Vorahnen Fluch und Segen ernten, 13 Im Maß, wie diese einst das Feld Der Zeit bald gut, bald schlecht bestellt Durch die Jahrtausende hindurch, So müssen wir auch Furch’ um Furch’ Der Jahre, der vermeintlich schnellen Und doch so dauernden, bestellen. Nur wenn wir, statt für uns zu raffen, Gemeinsam echte Werte schaffen, Verwandeln wir die flüchtge Zeit In eine irdische Ewigkeit, Der ganzen Menschheit zum Gewinn. Daß diesen hohen Lebenssinn Der Mensch sich in der Zeit bewahre, Sei unser Wunsch zum neuen Jahre.

Quelle: Eugen Roth